Alice im Untergrund
Sie
steigen in die U-Bahn und bemerken, dass auffällig viele Menschen mit großen
Kopfhörern in diesem Abteil sitzen. Doch diese Menschen scheinen auf dem ersten
Blick seltsamerweise nichts miteinander zu tun zu haben. Sie nehmen also mit
einem merkwürdigen Gefühl, dass es sich um keine gewöhnliche U-Bahn Fahrt
handelt Platz und beobachten weiterhin Ihr Umfeld. Plötzlich stülpt sich der
Mann neben Ihnen einen Gummihandschuh über die Hand und beginnt den Müll vom
Boden der U-Bahn aufzusammeln. Ein weiterer läuft mit einem Fake Banjo durch
das Abteil und singt Playback zu einem Song, den man nicht hören kann, während
er auf den nicht vorhanden Saiten des Instruments zupft. Mittlerweile sind Sie
nicht mehr die einzige Person, der in dieser U-Bahn etwas reichlich seltsam
vorkommt. Aus unerfindlichen Gründen erheben sich alle Personen mit einem
Kopfhörer gleichzeitig von ihren Sitzen, stehen eine Weile schweigsam und
setzen sich wieder auf Ihre Plätze. Während der Herr, der zuvor den Müll
aufgesammelt hatte, nun Wäsche auf einem Kleiderbügel an den Haltegriffen der
U-Bahn aufhängt, hört man schon das erste verstörte Gelächter. Verwirrt müssen
Sie hinnehmen, dass Sie nicht verstehen können, was hier gerade passiert.
„Was geht’n hier ab Oida?!“
„Wo ist die versteckte Kamera?“
Das und
ähnliches bekam man am 16.07.2013 in der Münchner U-Bahnlinie U2 zu hören, wenn
man ab 20:23 Uhr von der Haltestelle Messestadt Ost in Richtung Feldmoching
unterwegs war. Das PATHOS Theater München lud zu der außergewöhnlichen
Veranstaltung „UNTN“ ein, die
eigentlich offiziell keine Veranstaltung war, weil hierfür die erforderliche
Genehmigung der Münchner Verkehrsgesellschaft nicht vorlag. Also bewegte man
sich, unter Einhaltung der Beförderungsvorschriften der MVG, als Fahrgast unter
Fahrgästen im Untergrund.
In einer U-Bahn
gelten Regeln. Abgesehen von den Vorschriften der Fahrgastbeförderung
existieren nicht niedergeschriebene Gesetze – gesellschaftliche Regeln. Wer
diese nicht beachtet, schießt sich schnell ins Aus. Man redet nicht lautstark
in einer U-Bahn – nicht miteinander und schon gar nicht mit sich selbst.
Schließlich sitzt man hier in einem engen Raum aufeinander und darf die anderen
möglichst nicht belästigen oder in deren Privatsphäre eindringen. Man
beobachtet die Menschen lieber durch die Spiegelung an der Fensterscheibe, um
unauffällig einen Blick zu erhaschen, als direkt zu schauen und zu riskieren,
dabei erwischt zu werden. Doch was passiert, wenn ein Fahrgast plötzlich
aufsteht und anfängt die Scheiben der U-Bahn zu putzen? Was, wenn der
Sitznachbar sich die Zähne putzt? Und was, wenn einem Fahrgast die bestellte
Pizza in die U-Bahn geliefert wird und man auch noch freundlich ein Stück
angeboten bekommt? Wenn all das passiert, haben wir das Gefühl, dass es sich
hierbei um äußerst ungewöhnliche Dinge handelt. Unsere Gewohnheiten und
Denkmuster werden durchbrochen. Unser Verständnis von sozialen Strukturen und
Verhaltensweisen wird erschüttert. Aber was ist eigentlich normal und was
anormal? Ist es nicht im gleichen Maße verrückt sich in der U-Bahn die Zähne zu
putzen, wie lieber wegzuschauen, als hinzuschauen? Es ist wohl die Angst, dass
etwas von jemandem gewollt wird, das die Fahrgäste einer U-Bahn veranlasst,
sich am liebsten von allem abzuschotten. Was aber, wenn Dinge passieren, die so
auffällig sind, dass man sich nicht mehr davon abschotten kann? Die
Ungewissheit, wie man sich „richtig“ verhält, lässt viele eigenartig reagieren.
Ähnlich
irritiert verhalten sich die „gewöhnlichen“ Fahrgäste der Münchner U-Bahnlinie
U2, wenn sie beispielsweise beobachten, wie sich ein Mann im Käferkostüm und
zwei weitere Männer gegenseitig überdimensional große Spielkarten herumreichen.
Nur die Fahrgäste, die im Besitz eines Funkkopfhörers sind, welche zuvor an der
Haltestelle Messestadt Ost ausgegeben wurden, verstehen durch das live
übertragene Hörspiel, dessen Musik von Christoph Treußl und Text von Katrin
Dollinger, Georg Reinhardt und Marcus Widmann stammen, die Zusammenhänge dieser
seltsamen Geschehnisse. Interessant sind dabei auch die psychologischen Aspekte
des Kollektivbewusstseins. Befinden sich die unbeteiligten Personen in der
Minderheit, so ist zu beobachten, dass sich diese Menschen eher interessiert,
amüsiert oder verdutzt verhalten und am liebsten zur Gruppe dazu gehören
würden. Verändern sich die Verhältnisse so, dass die Unbeteiligten in der
Überzahl sind, so wird die Gruppe als gesellschaftlich inakzeptabel empfunden
und sogar verbal angegriffen.
Die Lieder und
Texte, die von einem Laptop auf die Kopfhörer übertragen werden, haben stets
einen engen Zusammenhang mit der Umgebung, die sich auf der Strecke befinden
und sind hervorragend auf die Fahrt abgestimmt. Fährt die U-Bahn beispielsweise
an der Haltestelle Messestadt West vorbei, so hört man, dass man gerade einen
überirdisch gelegenen Friedhof passiert und wird für die dort ruhende Mutter
gebeten zu einer Schweigeminute aufzustehen. Während der ganzen Fahrt
vermischen sich illusionäre Konstruktionen mit der Realität, auf die man in der
U-Bahn trifft. Die Grenzen zwischen Fiktion und Wahrheit verschwimmen so sehr,
dass selbst die Teilnehmer oft nur noch schwer abschätzen können, wer
eigentlich zu diesem performativen Schauspiel dazu gehört und wer ein
gewöhnlicher Fahrgast ist. Wer ist Statist und wer real? Das alles wird exzellent
mit der zeitgenössischen Architektur, der Stadtgeschichte und der heutigen
Gesellschaft verbunden und reicht bis zu den Ansichten über die Demokratie
eines alten griechischen Philosophen. Es gibt einen Denkanstoß über die eigene
Lebensweise und öffnet die Tür zur Selbstreflektion. Muss man denn ein Leben
lang ackern wie ein Wahnsinniger bis man selbst im Friedhof landet? Kann man
nicht selber ein bisschen wie Alice im Wunderland sein und einen Schritt zurück
machen, um einen anderen Weg zu gehen und eigene sowie gesellschaftlich
vorgegebene Grenzen zu überschreiten, anstatt wie ein Hamster im Laufrad immer
vorwärts zu laufen? Muss man immer nach oben streben? Sei es auf der Karriereleiter
oder im privaten Bereich. Diese Frage muss jeder für sich selber beantworten.
Vorerst wird man aber an den topologisch tiefgelegensten Punkt der Stadt
herunter gezogen – nämlich der Endstation Feldmoching, welches auch die
Eigenschaft besitzt, Stadt und Land miteinander zu vereinen. Vereint begeben
sich auch alle Teilnehmer und Protagonisten tanzend aus dem Bahnhof nach oben,
wo dieser einzigartig abwechslungsreiche und unterhaltsame Abend seinen
Abschluss findet. Chapeau für diese ausgezeichnete Darbietung und die
hervorragende organisatorische, technische und logistische Leistung, die sich
dahinter verbirgt.
Hakan Karakaya
Foto: Matthias Kestel