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Freitag, 2. Mai 2014

Ostwind

Willkommen in Deutschland



"Uns geht es gut, sage ich in den Spiegel und denke mir blöde Lügnersau", gesteht die Dame mit den Seranoschinken Armen, denn Ostwind handelt von emanzipierten und selbstbewussten Einwanderern aus Osteuropa, die für ihre Träume kämpfen und sich dabei nicht selten selbst belügen, scheitern und weiterkämpfen. Sie alle, von der als Putzfrau arbeitenden Juristin bis hin zur Prostituierten, haben sich ihren Platz in der Gesellschaft erkämpft, auch wenn sie nur am Rande dessen auftreten. Das Stück beschäftigt sich mit Legalität und Illegalität, mit Lüge und Wahrheit und mit Illusion versus Realität. Polit- und sozialkritisch bietet es einen tiefen Blick in nationale Migrationswahrheiten, -geschichten und -träume und zerreißt Vorurteile in tausend Fetzen. Den Inhalt fürOstwind erarbeitete sich der Autor Emre Akal aus zahlreichen Interviews, die er im Raum Stuttgart geführt und zu parallel erzählten Geschichten verdichtet hat. Sprachästhetisch verleiht er jeder einzelnen Figur eine eigene starke Ausdrucksweise, die stellenweise sehr derb, aber umso wirkungsvoller ist. Durch seine humoristische Ironie schafft er es, ein ernstes Thema auf bekömmliche Weise zu besprechen. 

Wer bereits Stücke gesehen hat, in denen Wilfried Alt Regie führte, erkennt auch diesmal wieder seine Handschrift. So bereichert er Ostwind mit wertvollen Ideen in der Umsetzung und beweist einen feinfühligen Umgang mit dem Text. Dabei lässt er den Schauspielern sehr viel kreativen Freiraum. Das erkennt man auch in der harmonischen Zusammenarbeit zwischen den Akteuren und deren individuellen Darstellung ihrer eigenen Vorstellung von den einzelnen Figuren. 

Das Schauspieler-Duo Berivan Kaya und Andrim Emini schafft es, die Energie während der gesamten Vorstellung oben zu halten und zieht den Zuschauer mit einer wunderbaren Bühnenpräsenz in seinen Bann. Das Stück lebt durch einen präzisen Sprachrhythmus, und das ist auch genau der Punkt, an dem noch etwas gefeilt werden darf. Die Protagonisten interagieren sehr stark miteinander und gehen auch kommentarisch auf die Texte des anderen ein. Das verleiht den Texten zwar mehr Lebendigkeit, raubt aber dem Zuschauer den Raum für eigene Gedanken. Die unterschiedlichen Figuren, die durch Kaya und Emini sehr authentisch zum Leben erweckt werden, schmiegen sich hervorragend in das Bühnenbild ein. Nicht zuletzt durch die Videoprojektionen an einer Leinwand wird die Straße praktisch auf die Bühne transportiert, welches dem Stück somit eine zusätzliche Dynamik verleiht. Auch musikalisch leisten emotionale und textlich passende Lieder einen ergänzenden Beitrag zu den Geschichten. Die Bauzäune und Absperrgitter sorgen außerdem dafür, dass die Monologe ein passendes Umfeld erhalten und bilden einen schönen Rahmen zu den Erzählungen. Wünschenswert wäre nach dem Schlusssatz ein abruptes und wirkungsvolleres Ende gewesen. 

Alles in allem ist Ostwind ein sehr bewegendes Theaterstück, das sich an ein außergwöhnliches Thema heranwagt und den Zuschauer auch nach der Vorstellung noch zum Nachdenken anregt. Dies würdigt das Publikum am Premierenabend mit langanhaltendem Applaus.


Hakan Karakaya

Foto: Wolfgang Knape

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