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Mittwoch, 17. April 2013

Fegefeuer in Ingolstadt

Der Leib, als das Gefängnis der Seele

„Ich bleibe für mich. Heulen darf ich auch nicht.“ – und nicht nur heulen dürfen sie nicht, sondern auch nicht einmal selber sprechen. „Fegefeuer in Ingolstadt“ heißt das Stück von Marieluise Fleisser, das zur Premiere am 08.Februar 2013 in den Münchner Kammerspielen aufgeführt wurde.
Olga erwartet ein Kind von einem Jungen, der sich offenbar von ihr abgewandt hat. Gleichzeitig weckt sie das Interesse des stinkenden Nachbarsjungen Roelle, der Gefallen an ihr findet und sich an sie heranmacht. Dies gibt Olgas Schwester Clementine Grund zur Eifersucht. Als Roelle von Olgas Schwangerschaft erfährt, versucht er sie zu erpressen und fordert von ihr unter Gewalt Zuneigung und Zärtlichkeit, was sie wiederum in die Flucht treibt. Getrieben vom religiösem Wahn prahlt Roelle auf einem Jahrmarkt mit Engelserscheinungen. Als sein Täuschungsversuch entlarvt wird, wird er mit Steinen beworfen und flüchtet zu Olga nach Hause, die ihrem Vater gerade ihre Schwangerschaft gesteht und keinerlei Verständnis erfährt. Sie sieht den einzigen Ausweg im Suizid und versucht sich zu ertränken, wird jedoch vom wasserscheuen Roelle gerettet. Roelle behauptet, der Vater ihres ungeborenen Kindes zu sein, um wieder Ansehen zu erlangen. Damit erreicht er aber nur, dass auch Olga degradiert wird. Beide brennen im „Fegefeuer“ der Familie, Gesellschaft und der zwei ungreifbaren Brüder Protasius und Gervasius. Damit die beiden verstoßenen Roelle und Olga wieder in die Gesellschaft hinein finden, verbreiten sie über sich gegenseitig Gerüchte. Als Roelle sein Verhalten rechtfertigt, wirft Olga ihm vor, der Grund für ihren sozialen Absturz zu sein. Eingekauert im Eck, in der ihm nicht einmal mehr seine religiös geprägte Mutter zur Seite stehen kann, glaubt sich Roelle einer Totsünde schuldig gemacht zu haben und will beichten.
„Fegefeuer in Ingolstadt“ ist ein kontrovers diskutiertes Stück, in der die Menschen in der Welt ihrer eigenen starren Körper gefangen sind, die gleichermaßen verstörend, als auch beengend wirken. Diese Welt spiegelt sich auch in dem kahlen und kalt wirkendem Raum wider, das den kleinbürgerlichen Kosmos der Städte wie Ingolstadt in den 1920er Jahren darstellt, welches sinnbildlich für viele weitere Städte steht. Die Regisseurin Susanne Kennedy schafft es, durch ein ständiges An und Aus des Lichtes, begleitet durch einen dröhnenden Sound, eine Dramatik und Spannung zu erzeugen, die seines Gleichen sucht. Diese apruppten Szenenwelchsel werden für schnelle und lautlose Veränderungen im Bühnenbild genutzt. Es wirkt fast wie ein Filmriss, der dem Zuschauer jedesmal  ein anderes Bild präsentiert, wenn das Licht wieder angeht.
Das Ensemble zeigt einen perfekt aufeinander abgestimmten Einsatz mit Texteinspielungen und ein herovrragendes Zusammenspiel auf der Bühne. Die Schauspieler verkörpern dabei steinerne Figuren, die keinen Zugang zur Sprache, zu Emotionen und Wünschen finden. Besonders der fast psychopathische Blick der Schauspielerin Cigdem Teke, in der Rolle der Olga, zeigt unbefriedigte Sehnsüchte nach etwas Glück und Liebe und verdeutlicht damit ihre Verzweiflung. Die Personen des Stücks stehen als Beobachter zueinander, und nutzen eine verbale aber auch körperliche Gewalt, um sich Aufmerksamkeit zu verschaffen.
Kennedy setzt im Stück bewusst die Wiederholung einiger Szenen als ein Mittel ein, das dem Zuschauer jedoch bei Überdosierung sauer aufstößt. Als Roelle seine Beichte zum dritten Mal ablegt, verlassen am Premierenabend einige Zuschauer sichtlich genervt vorzeitig den Saal. Die Spitze der Aufregungen wird erreicht, als direkt im Anschluss an die Beichte ein Gebet vom gesamten Ensemble gesprochen wird, das mehrmals in einer immer höher werdenden Stimmlage wiederholt wird. Der Zuschauerraum polarisiert und wird überschattet von Buh‘s, Pfiffen und „Es reicht!“-Rufen, die sich mit dem Applaus der zufriedenen Zuschauer vermischen. Immer mehr Zuschauer verlassen den Vorstellungsraum, doch das übrig gebliebene Publikum, das sich noch immer in der Mehrzahl befindet, zeigt durch langanhaltendem Applaus und einer Standing Ovation seinen Respekt dieser vielleicht genialen Darbietung.
Hakan Karakaya
Foto: Julian Röder

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