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Mittwoch, 17. April 2013

Die Geschichte vom 12.12.12

Die Geschichte vom 12.12.12

Ein historischer Tag, den es so nie mehr wieder geben wird. Die Welt steht Kopf. Die Server von Facebook rauchen. Ab heute wird Fußball mit 12 Mann gespielt. Die Zwölf ist eine erhabene Zahl, weil sowohl 6, die Anzahl der Teiler, als auch 28, die Summe ihrer Teiler, vollkommene Zahlen sind - und streben wir nicht alle nach Erhabenheit und Vollkommenheit? Die abendländische Musik, deren 12.Teil einer Oktave, der Halbton des kleinsten verwendeten Intervalls darstellt, beschallt heute unsere Ohren und bestimmt die europäische klassische Musik, die aus 12 Tönen und somit aus 12 Dur- und Molltonarten besteht. Der 12-Finger-Darm zelebriert heute seinen ganz besonderen Stellenwert in unserem Körper. Und auch Jesus feiert heute noch einmal mit seinen 12 Jüngern das letzte Abendmahl bei Simit und Çay. Eins gefolgt von zwei - und das drei Mal. 12 - Ist 12 eine migrantische Zahl? Hieß es vielleicht nicht früher mal zwülf? Hat sich vielleicht das "ü" in zwülf nicht mit der Zeit zu einem "ö" gekrümmt - also zu einem deutschen zwölf integriert? Denn im Althochdeutschen hieß es mal "zwelif" mit der Bedeutung „zwei bleibt übrig“, also „zwei über zehn“. Waren das die zwei Ausländer - pardon, die zwei Bürger mit Migrationshintergrund, die verzweifelt Anschluss an der zehn gesucht haben und es nur schaffen konnten indem Sie sich verbogen? Ja - Fußball macht mit 12 Spielern keinen Sinn. Dazu müsste man sich selbst und die Denkweisen verändern. Das tun wir lieber mal nicht. Genauso wenig, wie es Sinn macht eine Zahl 13 zu feiern. Die ist schließlich böse und einen 13.13.13 wird es ja auch nicht geben.

Hakan Karakaya

Onkel Wanja

Langeweile – Wo Zeit und Raum zur lähmenden Lethargie werden



„Nichts hat sich geändert, alles bleibt beim Alten.“ – das triste Landleben und die sinnlosigkeit eines unerfüllten Daseins zeichnet Anton Tschechow in seinem Stück „Onkel Wanja“, welches am 04.04.2013 zur Premiere in den Münchner Kammerspielen aufgeführt wurde. Dass diese Vorstellung stattfinden konnte ist dem Intendant Johan Simons zu verdanken, der nach einer grippalen Erkrankung der Regisseurin Karin Henkel kurzfristig einsprang und ihre begonnene Arbeit vollendete. Eine ineinander greifende Zusammenarbeit, die sich sehr positiv aufs Gesamtergebnis niederschlägt.
„Why did you get up this morning?“. Diese und ähnliche Fragen, die fortwährend als Laufschrift eingeblendet werden,  kann man nur schwer beantworten, wenn man in den Mikrokosmos des Onkel Wanja blickt. Professor Serebrjakow lässt seine Nichte Sonja und ihren Onkel Wanja auf seinem Landgut arbeiten, während er ein schickes Stadtleben mit seiner zweiten Frau, der jungen und hübschen Jelena führt. Jahrelang schuften Sonja und Wanja, um dem Professor den erwitschafteten Ertrag zu schicken, der sich damit sein teures Leben finanziert. Alles ändert sich als der zwischenzeitlich pensionierte Serebrjakow mit seiner Frau wieder aufs Land zieht und allen klar wird, dass er nichts mehr als ein blutsaugender, schwätzender, alter Blender und Hypochonder ist.  Damit beraubt er alle, die an ihn geglaubt und ihn verehrt haben, ihrer Zeit und Mühe der Vergangenheit. Im Laufe der Stücks stellen alle Beteiligten ihre Handlungen ein. Eine resignierte und betäubende Starre bricht aus. Jede Form von Lebensfreude schwindet und ein tristes Landleben holt die Protagonisten ein. Eine Langeweile, die es bis zum Tode auszusitzen oder im Alkohol zu ertränken gilt. In ein Loch der Trostlosigkeit gefallen, leben und lieben sie alle aneinander vorbei. Wanja ist unglücklich in Jelena, der zweiten Frau des Professors verliebt. Jelena spielt mit dem ständig betrunkenen und ungepfelgten Arzt und Naturschützer Astrow, der wiederum die Liebe des Mauerblümchens Sonja nicht bemerkt, während Wanjas Mutter noch immer den zittrigen Professor verehrt. Das letzte Quäntchen an menschlicher Emotion kocht in Wanja hoch, als der Professor ankündigt, das Landgut verkaufen zu wollen. Gepackt von der Wut versucht er Serebrjakow zu erschießen aber wie auch alles andere in seinem Leben misslingt ihm dieser Mordversuch.
Muriel Gerstner quetscht die Schauspieler in einen klaustrophobisch kleinen, schwarzen Schaukasten, der sie zur Bewegungslosigkeit zwingt. Unterstützt wird das durch das überflüssige Dasein der Großmutter Marija Wassiljewna Wojnitzkaja (Hans Kremer) und dem verarmten Gutsbeitzer Telegin (Stefan Merki), die wohl nur als Raumfüller in das Stück integriert wurden. Dieser knappe Raum spiegelt auch die vermeindliche Auswegslosogkeit der Situation der Figuren wider – eingeengt in einer öden Welt, in der es nichts Lebenswertes mehr gibt.  Ein Leben, in der sich das einzige Glück darin spiegelt, sich dort kratzen zu können, wo es juckt.
Henkel und Simons reduzieren die Inszenierung auf das absolut Wesentliche und verleihen den Figuren eine sprachliche Monotonie, welches die surreale Tristesse des Stücks unterstreicht. Die Schauspieler werden ähnlich wie in einem Marionettentheater eingesetzt und tänzeln bewusst unbeholfen in ihrem Schaukasten.  Nur Onkel Wanja, gespielt von Benny Claessens, sitzt phlegmatisch und eher wortkarg am Bühnenrand. Anna Drexler verkörpert die schüchterne und in einem Kartoffelsack ähnlichen Kostüm gekleidete Brillenschlange Sonja überwältigend und mit gekonnter, punktgenauer Komik, wodurch sie das Publikum oft zum Lachen bringt. Aber auch der an Parkinson leidende Professor, der von Stephan Bissmeier sehr authentisch gespielt wird, trägt zur Unterhaltung der Zuschauer bei, wenn er in seinem grauen Anzug gebrächlich und fast stotternd über die Bühne trippelt. Ähnlich erbärmlich wirkt der Landarzt, hervorragend verkörpert durch Maximilian Simonischek, der wie ein obdachloser Säufer ständig über die Bühne torkelt und dabei schon längst aufgehört hat zu leben. Wie aus einer anderen Welt strahlt hingegen Wiebke Puls, wenn sie sich in ihrem pinken Abendkleid wie ein Messer ihren Weg über die Bühne schneidet und sich in eine fremde Gesellschaft begibt, über deren Unglück sie nur verächtlich lachen kann.
Tschechow deutet damit auf ein Phänomen, das sich auch in einer dekadenten Gesellschaft von heute wiederfinden lässt. Auf ein Problem einer wohlhabenden Gesellschaft, die seine Möglichkeiten nicht zu nutzen weiß und somit immer mehr in ein Loch aus Frust und Langeweile fällt.
Insgesamt kann man aber sagen, dass man aufgrund des Schicksals der Protagonisten doch lieber mehr Mitgefühl verspürt hätte, als so viel zu lachen. Das ist wohl auch eines der Kritikpunkte an diesem Abend, der durch den Gesang melancholischer, russischer Lieder von Polina Lapkovskaja begleitet wurde.
Mit tosendem Applaus und einer Standing Ovation zeigt das Publikum allen Beteiligten gegenüber seine Anerkennung. Noch nie war Langeweile so Unterhaltsam!

Hakan Karakaya

Foto: Julian Röder

Stiller Lärm

Stiller Lärm


H:  Offff... ich hab aus Langeweile viel zu viel gefressen.
      Ich baue mir grad ein Haus aus Waffeln.
      Und dann lass ich es einkrachen.
      Und dann bau ich einen Turm aus Waffeln.
      Und dann lass ich es einkrachen
      Und dann bau ich mir eine Pyramide aus Waffeln.
      Und dann lass ich es einkrachen.
      Und dann bau ich mir Probleme aus Waffeln
      Und dann lass ich es einkrachen.
      Schön....
      Sehr schön....
      Mein Leben ist so wunderbar.
      Tick Tack Tick Tack.
      Es ist Zeit zum essen.
      Ich muss meine Waffeln einkrachen lassen und sie dann essen.
      Ja... eine gute Idee!
      Das werde ich tun!
      Werde ich das?
      Draußen ist es so trist.
      Alles grau in grau.
      Die wunderbarsten Nuancen des graus.
      Ich bau mir einen Müllhaufen aus Waffeln.
      Und dann lass ich es einkrachen.
Z:   Hör doch auf!
      Mach was anständiges!
      Was isst du?
      Nur Waffeln?
H:  Waffeln!
      Essen, schlafen, sitzen.
      Essen, schlafen, sitzen.
      Und manchmal auch liegen.
      Das Leben ist wunderbar!
Z:   Deine Gehirnzellen ziehen sich zurück!
H:  Nicht doch...
      Ich bau mir ein Haus.
      Ja, das mache ich!
      Ein Haus aus Waffeln
Z:   Ooooooooffffffffff…
H:  Und dann feiere ich in diesem Haus und lasse es einkrachen.
      Grau…wunderbares grau!
      Alle Nuancen dieses wunderbaren graus durchströmen meinen Körper.
      Stille…
      Es ist so still, dass meine Gedanken schon zu laut sind.
      Am besten baue ich mir ein Haus.
      Ein Haus aus Waffeln – und lasse es einkrachen.
      Dann ist es nicht mehr so still.
      Dieses Grau – ein himmlisches grau!
      Im wahrsten Sinne des Wortes.
Z:   Bist du krank?
H:  Ich sollte mehr essen
      Das ist die Lösung!
      Wer isst, hat was zu tun.
Z:   Du hast sowieso so krass abgenommen.
      Magersüchtiger!
H: Magersüchtig... ein interessantes Wort!
      Mager... süchtig…
      Die sucht nach magerem Fleisch.
      Medium rare.
      Gebraten kann man sich damit sicher ein Haus bauen.
      Am besten esse ich ne Waffel.
      Dieses grau.... es blendet mich!
      Oh neiiiiiiiin.... es ist schon wieder April. Bald ist der Winter wieder da!
      Und wenn sich das grau ändert?
      Was wenn es nicht mehr ist?
      Ich liebe mein Leben!
Z:   Ich glaub du liebst nur dich und Waffeln!
H: Ich bau mir jetzt ein Haus.
      Ein Haus aus Waffeln.
      Und dann lass ich es einkrachen.
      Sei still!
      Meine Gedanken…
      Meine Gedanken sind so laut
      Ich bekomme Kopfschmerzen!
Z:   Offf… das tut echt weh!
H: Gute Besserung!
Hakan Karakaya

Wieso?


Wieso?

Es ist dunkel. Das Tageslicht bekomm ich nur durch die klitzekleinen Spalten zu sehen, die an ein Fenster erinnern. Frische Luft hab ich so gesehen noch nie geschnuppert. Was ist das eigentlich – das Ding, das sie Frischluft nennen? Hier hängt der Duft des Todes in der Luft, vermischt mit unserem eigenen Kot. Ja, ich bin zwar eingesperrt, aber ich bin nicht alleine. Es heißt, wir waren mal frei – so erzählt man es hier. Ich weiß nicht so recht, ob ich das glauben kann. Ich kann´s mir einfach nicht vorstellen. Wie das wohl ist frei zu sein? Ich bin hier im meiner Zelle geboren. Ich kenne nichts anderes als dieses Gefängnis. Aber warum bin ich eingesperrt? Was hab ich verbrochen? Ich habe doch niemandem etwas getan! Freiheit… seltsames Wort. Man sagt, früher konnten wir uns frei bewegen, essen wenn wir Hunger hatten und frische Luft atmen. Ich halte das für ein Gerücht! Meine Freiheit beschränkt sich auf ca. 2-3m². Eigentlich kann ich mich kaum bewegen aber das Gesetz sagt, dass ich ausreichend Platz habe. Mehr steht mir nicht zu und damit muss ich leben.

Tagsüber höre ich Schreie. Schreie von den Verurteilten. Sie werden abgeholt, um getötet zu werden. Nein, ihnen wird nicht einfach der Kopf abgeschlagen. Sie werden in Gruppen in die Todeskammer gestoßen. Dort wird ihnen eine Pistole mit Betäubungsmittel an den Kopf gehalten aber das wirkt nie. Sie  werden an den Beinen Kopfüber aufgehängt, während sie noch verstört zappeln und schreien – ich kann sie gut hören. Es ist der bittere Schrei des Überlebenswillens aber sie haben keine Chance. Sie werden halb erschlagen während sie herunterbaumeln. Die Bäuche werden ihnen aufgeschlitzt bis sie verbluten und die anderen müssen dabei zusehen bis sie selber an der Reihe sind.

Neulich war mal einer von uns krank. Da mussten wir alle Medikamente nehmen, damit wir nicht angesteckt werden. Uns wurde in die Pampe, die sie uns als Fraß vorsetzen, Antibiotika gesteckt, damit wir nicht auch krank werden. Dabei merken die gar nicht, dass das uns nur noch mehr krank macht und schädlich ist. Ich musste dieses Zeug essen, obwohl ich eigentlich gar nicht wollte. Dieser Matsch schmeckt sowieso nicht gut – soll’s ja auch nicht. Es ist einfach nur günstig und soll uns stopfen.

Nachts höre ich viele schreien und weinen. Manche von ihnen haben Schmerzen, andere wissen genau, was uns allen hier noch blüht. Jedes Mal wenn einer von denen im weißen Kittel herein kommt, zucken wir zusammen. Manchmal schauen sie nur aber manchmal werden wir auch in der Nacht weggebracht. Geschlafen hab ich schon lange nicht mehr. Ich muss mir immer die gleiche Frage stellen. Wieso machen die das mit uns? Warum ist die Welt so grausam? Ich hatte keine Antwort, bis eines Tages ein Neuer zu uns kam. Er schien schon viel erlebt zu haben. Er berichtete mir von der Freiheit, die wir nur als Mythos kannten. Er sagte, dass er mal so gelebt hat, wie wir es nur aus Erzählungen her kennen. Bis auch er eines Tages eingesperrt und zu uns gebracht wurde. Ich wollte Ihm so viele Fragen stellen. Alles kochte in mir hoch aber dann wurde ich von hinten gepackt und aus meiner Zelle gezogen. Ich schrie noch meine letzte Frage „Wieso?“. Er blickte zu mir und sagte „Geld mein Lieber! – Das ist alles nur des Geldes wegen.“

Dann wurde auch ich, wie die übrigen Rinder, ins Schlachthaus geführt.


Hakan Karakaya

Fegefeuer in Ingolstadt

Der Leib, als das Gefängnis der Seele

„Ich bleibe für mich. Heulen darf ich auch nicht.“ – und nicht nur heulen dürfen sie nicht, sondern auch nicht einmal selber sprechen. „Fegefeuer in Ingolstadt“ heißt das Stück von Marieluise Fleisser, das zur Premiere am 08.Februar 2013 in den Münchner Kammerspielen aufgeführt wurde.
Olga erwartet ein Kind von einem Jungen, der sich offenbar von ihr abgewandt hat. Gleichzeitig weckt sie das Interesse des stinkenden Nachbarsjungen Roelle, der Gefallen an ihr findet und sich an sie heranmacht. Dies gibt Olgas Schwester Clementine Grund zur Eifersucht. Als Roelle von Olgas Schwangerschaft erfährt, versucht er sie zu erpressen und fordert von ihr unter Gewalt Zuneigung und Zärtlichkeit, was sie wiederum in die Flucht treibt. Getrieben vom religiösem Wahn prahlt Roelle auf einem Jahrmarkt mit Engelserscheinungen. Als sein Täuschungsversuch entlarvt wird, wird er mit Steinen beworfen und flüchtet zu Olga nach Hause, die ihrem Vater gerade ihre Schwangerschaft gesteht und keinerlei Verständnis erfährt. Sie sieht den einzigen Ausweg im Suizid und versucht sich zu ertränken, wird jedoch vom wasserscheuen Roelle gerettet. Roelle behauptet, der Vater ihres ungeborenen Kindes zu sein, um wieder Ansehen zu erlangen. Damit erreicht er aber nur, dass auch Olga degradiert wird. Beide brennen im „Fegefeuer“ der Familie, Gesellschaft und der zwei ungreifbaren Brüder Protasius und Gervasius. Damit die beiden verstoßenen Roelle und Olga wieder in die Gesellschaft hinein finden, verbreiten sie über sich gegenseitig Gerüchte. Als Roelle sein Verhalten rechtfertigt, wirft Olga ihm vor, der Grund für ihren sozialen Absturz zu sein. Eingekauert im Eck, in der ihm nicht einmal mehr seine religiös geprägte Mutter zur Seite stehen kann, glaubt sich Roelle einer Totsünde schuldig gemacht zu haben und will beichten.
„Fegefeuer in Ingolstadt“ ist ein kontrovers diskutiertes Stück, in der die Menschen in der Welt ihrer eigenen starren Körper gefangen sind, die gleichermaßen verstörend, als auch beengend wirken. Diese Welt spiegelt sich auch in dem kahlen und kalt wirkendem Raum wider, das den kleinbürgerlichen Kosmos der Städte wie Ingolstadt in den 1920er Jahren darstellt, welches sinnbildlich für viele weitere Städte steht. Die Regisseurin Susanne Kennedy schafft es, durch ein ständiges An und Aus des Lichtes, begleitet durch einen dröhnenden Sound, eine Dramatik und Spannung zu erzeugen, die seines Gleichen sucht. Diese apruppten Szenenwelchsel werden für schnelle und lautlose Veränderungen im Bühnenbild genutzt. Es wirkt fast wie ein Filmriss, der dem Zuschauer jedesmal  ein anderes Bild präsentiert, wenn das Licht wieder angeht.
Das Ensemble zeigt einen perfekt aufeinander abgestimmten Einsatz mit Texteinspielungen und ein herovrragendes Zusammenspiel auf der Bühne. Die Schauspieler verkörpern dabei steinerne Figuren, die keinen Zugang zur Sprache, zu Emotionen und Wünschen finden. Besonders der fast psychopathische Blick der Schauspielerin Cigdem Teke, in der Rolle der Olga, zeigt unbefriedigte Sehnsüchte nach etwas Glück und Liebe und verdeutlicht damit ihre Verzweiflung. Die Personen des Stücks stehen als Beobachter zueinander, und nutzen eine verbale aber auch körperliche Gewalt, um sich Aufmerksamkeit zu verschaffen.
Kennedy setzt im Stück bewusst die Wiederholung einiger Szenen als ein Mittel ein, das dem Zuschauer jedoch bei Überdosierung sauer aufstößt. Als Roelle seine Beichte zum dritten Mal ablegt, verlassen am Premierenabend einige Zuschauer sichtlich genervt vorzeitig den Saal. Die Spitze der Aufregungen wird erreicht, als direkt im Anschluss an die Beichte ein Gebet vom gesamten Ensemble gesprochen wird, das mehrmals in einer immer höher werdenden Stimmlage wiederholt wird. Der Zuschauerraum polarisiert und wird überschattet von Buh‘s, Pfiffen und „Es reicht!“-Rufen, die sich mit dem Applaus der zufriedenen Zuschauer vermischen. Immer mehr Zuschauer verlassen den Vorstellungsraum, doch das übrig gebliebene Publikum, das sich noch immer in der Mehrzahl befindet, zeigt durch langanhaltendem Applaus und einer Standing Ovation seinen Respekt dieser vielleicht genialen Darbietung.
Hakan Karakaya
Foto: Julian Röder

Atlantropa

Albtraumtropa
Erinnern Sie sich an Ihre Schulzeit und an die Schule, in die Sie nicht gehen wollten. Erinnern Sie sich an den grauenhaften Geschichtsunterricht, der einfach nicht vergehen wollte. Willkommen zur Premierenvorstellung von „Atlantropa“ – 100 Minuten, in denen man sich genau so fühlte.  
Die SchauBurg, die als Schauplatz dieses Bühnendebakels fungierte, hat unter Regie von Sebastian Linz am 14.02.2013 zu einer Vorstellung eingeladen, die an Mittelmäßigkeit kaum zu übertreffen war. „Atlantropa“ nennt sich das surreale Vorhaben des Münchner Architekten Herman Sörgel, dessen Idee es 1927 war, eine Lösung für die Krisensituation Europas zu finden. Sein Gedanke war es, einen Staudamm bei Gibraltar zu errichten und somit das Mittelmeer vom Atlantik abzuschotten und den mediterranen Meeresspiegel erheblich zu senken. Durch Wasserkraft sollte Energie erzeugt werden, welches durch ein großes Netz für politischen und wirtschaftlichen Frieden sorgen sollte. Das durch die Absenkung des Meeresspiegels neu gewonnene und fruchtbare Land, sollte als Kornkammer dienen und europäischen Völkern eine Heimat bieten. In einer Weiterentwicklung sah das Projekt eine Erschaffung von großen Binnenmeeren vor, um aus Europa und Afrika einen unabhängigen Kontinent zu entwickeln. So viel zur Theorie – in der Praxis bietet sich dem Zuschauer an diesem Premierenabend zu Beginn ein Bibliothek ähnlicher Raum mit Kunstpflanzen, der im Laufe des Stücks noch eine zentrale Rolle spielt.
Die vier Hauptdarsteller sitzen an den Tischen verstreut im Raum und tragen scheinbar Informationen zu einem Thema zusammen. Und dann geht’s auch schon los. Das Ensamble „ausbau.sechs“ tritt nach vorne und setzt sich in einer Reihe hin. Der Zuschauer wird durch die vorgelesenen, langatmigen und uninteressanten Zahlen, Daten und Fakten zum Projekt „Atlantropa“ nahezu eingeschläfert. Fast dankbar dafür, dass die langweiligen Informationen zu Ende vorgetragen sind, kommt ein bisschen Action in die Bude, was jedoch wie ein hilfloser Aktionismus wirkt, um mit diesem trockenem Thema nicht in der Wüste zu landen. Die Schauspieler springen wild umher und geben sich einer jeweils neurotisch wirkenden Beschäftigung hin, wodurch der Regisseur Sebastian Linz wohl versucht, die Unsinnigkeit des Projekts „Atlantropa“ zu verdeutlichen. Es werden mit vollem Körpereinsatz und auf höchst umständliche Weise Tische jongliert und verrückt, unter denen die Schauspielerin Linda Löbel nahezu erdrückt wird. Jede freie Fläche des schwarzen Raums wird durch die am Boden kriechende, schreibwütige Michelle Bray mit einem weißen Stift beschrieben. Hysterisch wird durch Christoph Theußl der Sand aus den Töpfen der Kunstpflanzen auf einem Tisch ausgeleert und ein absurdes Sandkastenspiel beginnt, während der vierte im Bunde, Martin Schülke Bücher über Atlantropa zur Schau stellt und grinsend Zettel an einen Tischrand klebt. Begleitet wird dieser unruhige Wettkampf um die Aufmerksamkeit des Publikums durch die vorgelesenen Korrespondenzen zwischen den Staaten, die am Projekt „Atlantropa“ beteiligt sind. Die Szenen wechseln sich zwischen skurrilem Bühnenchaos und vorgelesenem Schriftverkehr knapp 100 Minuten lang ab. Der Lichtblick dieses Abends ist ein sympathischer alter Mann, gespielt von Helmut Stange, der als Bibliotheksangestellter immer wieder über die Bühne huscht und dabei das Gefühl vermittelt, eigentlich in einem anderen Theaterstück auftreten zu wollen – was sich schlussendlich auch bestätigt, als sich der selbige gegen Ende als Goethe präsentiert. Ein tatsächlich abgetrennter und herrausragender Augenblick an gutem Schauspiel. 
Weitere Spieltermine dieses Doku-Horrors können leidensfähige Zuschauer dem Programm der SchauBurg München entnehmen.
Hakan Karakaya

Foto: DigiPott

Liebe ist... kein Argument

Einigkeit um Recht und Freiheit?

„Liebe ist... kein Argument“ heißt das Debütstück von Marianna Ölmez, das sie selbst geschrieben, inszeniert, produziert und darin die Hauptrolle gespielt hat.
Am 31.01.2013, dem Abend der Premiere, reiht sich die Kassenschlange der Pasinger Fabrik  bis zur Eingangtür, mit buntgemischtem Publikum, das gespannt ansteht, in der Neugierde, ob die zahlreichen Vorankündigungen in Rundfunk und Print halten werden, was versprochen wurde.
Dem Zuschauer bietet sich das Bild eines sehr naturalistisch gestalteten türkischen Wohnzimmers, inklusive Satellitenschüssel und Häckeldeckchen auf dem Fernseher.
Das türkische Ehepaar, gespielt von Ercan Öksüz und Marianna Ölmez, wirken auf den ersten Augenblick wie eine ganz „normale“ Familie, bis sich die Dame des Hauses, zum großen Missfallen des Ehemannes, in einenTschador wirft und Möbel verrückt, um die erwarteten deutschen Gäste Ulla und Bernd zu Empfangen.
Es begegnen sich zwei einander scheinbar fremde Welten, die über die bevorstehende Hochzeit ihrer Kinder verhandeln wollen, welche allerdings selbst aus unterschiedlichen Gründen nicht anwesend sein können.
Eine peinlich berührte Stille bestimmt die ersten Minuten des Besuchs. Niemand scheint so recht zu wissen, wie er sich korrekt zu verhalten hat. Der bayerisch derbe Vater, die Steine sammelnde buddhistische Ökomutter, die in schwarz eingehüllte Gastgeberin und auch ihr Raki liebender Ehemann nicht.  Ein Çay soll die angespannte Stimmung auflösen, so denkt Hatice, die Brautmutter und macht sich wohlwollend auf in die Küche. Sie kann nicht ahnen, dass Bernd, der Bayer Schwarztee nicht ausstehen kann, genauso wie auch das Gastgeschenk, die selbstgebackenen Öko- Dinkelkekse von Ulla, bei den Gastgebern nicht gut ankommen. Ein Kampf mit  Missverständnissen und Vorurteilen beginnt. Untersützt wird das gesellschaftliche Desaster durch den ständigen Überfall und den peinlichen Fauxpas  der unsensiblen  türkischen Nachbarin Emine, gespielt von der überaus bemühten Schauspielerin Maria Kafritsas, die immer wieder hereinplatzt und dafür sogrt, dass sich die Situation immer  weiter zustpitzt.
Marianna Ölmez entblöst die aufgesetzte Fassade ihrer Figuren Stück für Stück, bis sie sich selbst den Tschador wütend vom Leib reißt, um zu beweisen, dass sie nicht weniger frei ist als eine scheinbar emanzipierte europäische Frau – ein tiefsinniger Moment.
Der Regisseurin  gelingt an diesem Abend ein sehr heiteres, unterhaltsames und kurzweiliges Theaterstück mit gekonnter Komik, das durchgängig von herzhaften Lachern begleitet wird. Ein ausgelassenes Publikum  dankt  mit verdientem, langanhaltendem Applaus und überwältigt die zu Tränen gerührte Marianna Ölmez.
Ein Theaterstück, das die Lachmuskeln trainiert und das Thema der Interkulturalität unserer Gesellschaft witzig aufarbeitet.
Hakan Karakaya

Foto: Haydar Sokul

Verrücktes Blut

Wie viele Erfolgs-Kanacken verträgt das Land?

„Ich bin zwar nicht deiner Meinung, aber ich würde mein Leben dafür geben, damit du sie frei äußern kannst!“. Mit einer unglaublichen Ehrlichkeit und dem geschickten Umgang mit Klischees, feierte das Berliner Erfolgsstück „Verrücktes Blut“ von Nurkan Erpulat und Jens Hillje im Theaterhaus Stuttgart am 15. Januar 2013 eine weitere glanzvolle Darbietung. Das Stück wird seit dem 12.Oktober 2012 vom nomad theatre ensemble unter Regie von Daniel Klumpp aufgeführt.
Der Theaterunterricht beginnt und die Lehrerin, gespielt von Elif Veyisoğlu, verkündet das Thema des Projekttages. Es geht um Schillers erstes veröffentlichtes Drama „Die Räuber“ und um „Kabale und Liebe“ aus der Epoche des Sturm und Drang. Die sieben Schüler mit überwiegendem Migrationshintergrund ignorieren die Lehrerin dabei völlig und Streitigkeiten entfachen. Als der Lehrerin Frau Kelich bei einer Auseinandersetzung um den Inhalt der Tasche eines Schülers eine geladene Waffe in die Hand fällt, spitzt sich die Lage dramatisch zu. Im Gefecht um die Waffe löst sich ein Schuss, der den Schüler an der Hand verletzt. Panik bricht aus und die Lehrerin verliert die Nerven. Unter Waffengewalt zwingt Sie alle Schüler, sich flach auf den Boden zu legen und macht mit einem unmissverständlichen „Ihr haltet jetzt einmal eure Fresse!“ klar, dass sie es ernst meint.  Mit der nun eingekehrten Ruhe fährt sie paradoxerweise mit Schillers Idee von ästhetischer Erziehung fort. „Der Mensch ist nur da ganz Mensch, wo er spielt“ daher werden auch die Schüler nach und nach auf die Bühne gezwungen, um Szenen aus Schillers Stücken zu spielen.
Dem Zuschauer bietet sich ein groteskes Bild aus Jugendlichen, die der deutschen Sprache kaum mächtig sind und dabei unter Todesangst verzweifelt versuchen, Karl Moor und seinen Bruder Franz sowie Ferdinand und Luise auf die Bühne zu transportieren. Dabei wird jeder rebellische Eingriff der Schüler durch die hysterische Lehrerin gnadenlos unterbunden. Schnell werden den Schülern die Parallelen zwischen Schillers Stücken und den Problemen der heutigen Gesellschaft klar. Gestörte Verhältnisse zu Vätern werden ebenso diskutiert, wie frauenfeindliche Machos, Gewaltausbrüche und Kopftuch tragende, scheinbar unterdrückte Mädchen. Sie lernen, dass sie was aus Ihrem Leben machen müssen, damit die Bemühungen ihrer Eltern in Deutschland ein besseres Leben aufzubauen einen Sinn hat. Doch wie viele Erfolgs-Kanacken verträgt das Land? Dies ist gleichzeitig ein Hilfeschrei in einem schalldichten Raum. „Was wird aus mir, wenn das hier zu Ende ist?“. Das Theaterstück „Verrücktes Blut“ zeigt mit dem Finger auf soziale Benachteiligungen und ist gleichzeitig ein Appell an Migranten, als auch an die Mehrheitsgesellschaft in Deutschland, eingefahrene Einstellungen und Sichtweisen zu überdenken. 
Die Darsteller, die sämtliche Klischees über Migranten unverblümt bedienen, spielen ihre Rolle dabei sehr authentisch und überzeugend, mit vielen witzigen aber auch gefühlvollen Momenten.  Insbesondere Elif Veyisoğlu lebt die Rolle der Lehrerin auf der Bühne und überträgt jede Emotion auf den Punkt, wodurch sie die Zuschauer in ihren Bann zieht. Die Glaubhaftigkeit dieses Stücks entsteht aber auch daraus, dass fast jeder einzelne Schauspieler aus seinem eigenen Erfahrungsschatz seines Migranten-Daseins schöpfen kann. Mit einer spürbaren Freiheit ziehen die Schauspieler in die Szenen und dekonstruieren die Gedankenmuster und Bilder, bezogen auf das Thema Migrantenjugend, die sich bis dahin in den Köpfen der Zuschauer gefestigt hatten.
Durch die Konzentration auf das Wesentliche beim Bühnenbild, öffnet Daniel Klumpp dem Zuschauer außerdem einen spannenden Raum, in dem sich das Publikum voll und ganz der Geschichte hingeben kann. 
Mit „Verrücktes Blut“ ist dem Regisseur Daniel Klumpp und seinem Ensemble ein unglaublich spannendes und kurzweiliges Stück gelungen, dass sehr zu empfehlen ist.
Die nächsten Spieltermine finden am 25.03.2013 und am 26.03.2013 im Theaterhaus Stuttgart statt.
Hakan Karakaya

Foto: Robert Westrich

Tatort Paprikastraße

Zwischen Buchsbaum und Plattenbau – Mafia Mord im Ghetto. Oder doch ein Ehrenmord?
Eingeengt im Kostüm der Vorurteile!

Die Wiederaufnahme des Theaterstücks „Tatort Paprikastraße“ von Emre Akal, welches bereits im Laboratorium Stuttgart aufgeführt wurde, feierte unter der Regie von Wilfried Alt am 2. Advent im ausverkauften Studio 1 des Stuttgarter JES Theaters seine Dernière.
Hinter jeder Tür steckt eine Geschichte – und davon gibt es viele im Hochhaus der Paprikastraße: Das 35 Jahre alte Muttersöhnchen Myschka, gefangen im Nest der russischen Mama; die alleinstehende und charmante Griechin, die immer für einen Flirt zu haben ist; das türkische Pärchen mit dem Werdegang Gymnasium – Abitur – Killesberg – Ghetto; das italienische Paar Franco und Luisa oder auch das junge Fick Fuck Girl. Alle haben etwas gemeinsam. Sie wirken resigniert, sind Migranten und führen ein scheinbar auswegloses Leben, eingeengt in einem tristen Hochhaus, das nur noch durch seinen Pastell Anstrich versucht, freundlich zu wirken. Und genau da setzt der Autor Emre Akal auch an, um seiner Kritik an der Stadtplanung und der Ghettobildung der Vergangenheit Ausdruck zu verleihen. „Tatort Paprikastraße“ beschäftigt sich mit dem Thema kultureller Klischees und zeigt einen gelungenen Querschnitt einer ganz bestimmten Gesellschaftsschicht im urbanen Milieu. Dabei wird deutlich, dass gerade die Klischees und Vorurteile, die sich in den Köpfen der Mehrheitsgesellschaft gefestigt haben, keine Rolle spielen. Man lernt sich von diesen Gedanken frei zu machen und eine tiefere, viel bedeutsamere Ebene zu betrachten – nämlich die der zwischenmenschlichen Beziehungen.
All dies wird vom Regisseur Wilfried Alt und seinem Ensemble in einem mitreißenden Krimi inklusive einer Pantomime, die unter die Haut geht, inszeniert. Das Stück ist auf zwei Ebenen aufgebaut. Der Hauptteil des Theaters handelt von der Vergangenheit, welches die nachbarschaftlichen Beziehungen der Menschen auf dem Hausflur eines Hochhauses zueinander beleuchtet und zeitlich einem Mord vorangeht. Dies wird durch Einblendungen eines Polizeiverhörs aus der Perspektive der jeweiligen Beteiligten unterbrochen, welches sich in der Gegenwart abspielt. Jeder der Protagonisten, angefangen bei der Sozialarbeiterin über die Bewohner des Hauses bis hin zur sensationsgeilen Reporterin, spekulieren dabei auf ihre ganz eigene Art und Weise über den Tathergang und das Motiv. 
Die Darsteller spiegeln das Gesellschaftsbild in Bezug auf Migranten wider, das mit allen denkbaren Klischees behaftet ist. Mit einem ausgezeichneten Kostümbild fügen sie sich außerdem hervorragend in das Umfeld des Hausflurs, welches von der Kostüm- und Bühnenbildnerin Ulé Barcelos gestaltet wurde, ein. Die authentisch dargestellten Charaktere überzeugen mit vielen gefühlvollen und berührenden Augenblicken, die den Zuschauer zum Nachdenken anregen. 
Mit „Tatort Paprikastraße“ ist allen Beteiligten ein großartiges Theaterstück gelungen. Dies bewies auch das Publikum mit langanhaltendem Applaus und der großen Nachfrage nach einer Wiederaufnahme. Und nicht nur Erwachsene hatten große Freude an diesem Abend, auch die jüngeren Zuschauer, die das JES Theater an diesem 2. Advent besuchten, werden wohl spätestens seit dieser Aufführung Gefallen am Theater gefunden haben.
Hakan Karakaya

Foto: Forum der Kulturen