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Freitag, 2. Mai 2014

Ostwind

Willkommen in Deutschland



"Uns geht es gut, sage ich in den Spiegel und denke mir blöde Lügnersau", gesteht die Dame mit den Seranoschinken Armen, denn Ostwind handelt von emanzipierten und selbstbewussten Einwanderern aus Osteuropa, die für ihre Träume kämpfen und sich dabei nicht selten selbst belügen, scheitern und weiterkämpfen. Sie alle, von der als Putzfrau arbeitenden Juristin bis hin zur Prostituierten, haben sich ihren Platz in der Gesellschaft erkämpft, auch wenn sie nur am Rande dessen auftreten. Das Stück beschäftigt sich mit Legalität und Illegalität, mit Lüge und Wahrheit und mit Illusion versus Realität. Polit- und sozialkritisch bietet es einen tiefen Blick in nationale Migrationswahrheiten, -geschichten und -träume und zerreißt Vorurteile in tausend Fetzen. Den Inhalt fürOstwind erarbeitete sich der Autor Emre Akal aus zahlreichen Interviews, die er im Raum Stuttgart geführt und zu parallel erzählten Geschichten verdichtet hat. Sprachästhetisch verleiht er jeder einzelnen Figur eine eigene starke Ausdrucksweise, die stellenweise sehr derb, aber umso wirkungsvoller ist. Durch seine humoristische Ironie schafft er es, ein ernstes Thema auf bekömmliche Weise zu besprechen. 

Wer bereits Stücke gesehen hat, in denen Wilfried Alt Regie führte, erkennt auch diesmal wieder seine Handschrift. So bereichert er Ostwind mit wertvollen Ideen in der Umsetzung und beweist einen feinfühligen Umgang mit dem Text. Dabei lässt er den Schauspielern sehr viel kreativen Freiraum. Das erkennt man auch in der harmonischen Zusammenarbeit zwischen den Akteuren und deren individuellen Darstellung ihrer eigenen Vorstellung von den einzelnen Figuren. 

Das Schauspieler-Duo Berivan Kaya und Andrim Emini schafft es, die Energie während der gesamten Vorstellung oben zu halten und zieht den Zuschauer mit einer wunderbaren Bühnenpräsenz in seinen Bann. Das Stück lebt durch einen präzisen Sprachrhythmus, und das ist auch genau der Punkt, an dem noch etwas gefeilt werden darf. Die Protagonisten interagieren sehr stark miteinander und gehen auch kommentarisch auf die Texte des anderen ein. Das verleiht den Texten zwar mehr Lebendigkeit, raubt aber dem Zuschauer den Raum für eigene Gedanken. Die unterschiedlichen Figuren, die durch Kaya und Emini sehr authentisch zum Leben erweckt werden, schmiegen sich hervorragend in das Bühnenbild ein. Nicht zuletzt durch die Videoprojektionen an einer Leinwand wird die Straße praktisch auf die Bühne transportiert, welches dem Stück somit eine zusätzliche Dynamik verleiht. Auch musikalisch leisten emotionale und textlich passende Lieder einen ergänzenden Beitrag zu den Geschichten. Die Bauzäune und Absperrgitter sorgen außerdem dafür, dass die Monologe ein passendes Umfeld erhalten und bilden einen schönen Rahmen zu den Erzählungen. Wünschenswert wäre nach dem Schlusssatz ein abruptes und wirkungsvolleres Ende gewesen. 

Alles in allem ist Ostwind ein sehr bewegendes Theaterstück, das sich an ein außergwöhnliches Thema heranwagt und den Zuschauer auch nach der Vorstellung noch zum Nachdenken anregt. Dies würdigt das Publikum am Premierenabend mit langanhaltendem Applaus.


Hakan Karakaya

Foto: Wolfgang Knape

Mittwoch, 12. Februar 2014

Von den Beinen zu kurz

Die Perversion unter dem Deckmantel „Familie“


„Von den Beinen zu kurz“ – so heißt das Theaterstück, welches die junge Autorin und Gewinnerin des renommierten Mülheimer Dramatikerpreises Katja Brunner geschrieben hat. In der Münchner Umsetzung, unter Regie von Philip Decker stehen bzw. liegen zur Premiere am 10.02.2014 sieben Schauspieler/innen ineinander verknotet auf der Bühne und erzählen die Geschichte eines Mädchens, die vom eigenen Vater vergewaltigt wird. Schöne und unbeschwerte Kindheitsbilder in Form von Disney Filmprojektionen an den Wänden stellen einen starken Kontrast zur Handlung dar.  Die Autorin beschäftigt  sich auch mit der Frage, weshalb sich ein Kind solche Misshandlungen gefallen lässt und wieso die Gesellschaft und Familienangehörige die Augen davor verschließen.
Die szenische Umsetzung scheint zu knapp geraten - und dennoch von allem zu viel. Zu viele ambitionierte aber blasse Schauspieler, zu viel Berührung, zu viel Gesang. Ein Stück, das sehr stark auf Sprache und Text baut, geht leider durch sprachliche, akustische und rhythmische Schwächen völlig unter und verliert an Tiefe. Da retten auch die guten Regieideen das Stück leider nicht mehr.  Daher stellt sich die Frage, ob dieses anspruchsvolle Stück für diese Besetzung vielleicht nicht zu hoch gegriffen war.


Hakan Karakaya

Dienstag, 8. Oktober 2013

yoUturn

Auf dem Pfad der Paranoia


Stasi – NSA – Big Brother – yoUturn.
Das Überwachungsexperiment von Christiane Mudra entführt die Teilnehmer der Veranstaltung „yoUturn“ in die Welt eines Überwachungs-Opfers. Eines von fünf packenden und authentischen Geschichten, von Fällen extremer Überwachung, Kontrolle und Schickane führen die Besucher über unterschiedliche Routen auf einen Pfad der Paranoia. Man wird selber zu jeder Zeit observiert. Von wem, das weiß man nicht so genau. Genauso wenig, was auf einen zukommt, wenn man die Instruktionen befolgt, die man aufs Handy bekommt oder in Umschlägen findet. Ein mulmiges Gefühlt begleitet einen bei der Entdeckungsreise durch die Stadt, bei der  jeder Passant ein potentieller Spion sein könnte.
Das Wort Paranoia hat seinen Ursprung im Griechischen und setzt sich zusammen aus para „neben“ und nous, dem „Verstand“. Es bedeutet also „neben dem Verstand“. Heute findet das Wort Verwendung im Sinne von „Wahnsinn“ und ist eine Bezeichnung für eine psychische Störung. Umso passender ist die Wahl der Endstation in der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der LMU München, wo jeder Besucher nochmal am eigenen Leibe spürt, wie gläsern der Mensch heutzutage ist.

Ein sehr spannendes Experiment mit hohem organisatorischen Aufwand und viel ausbaufähigem Potential!

Hakan Karakaya

Foto: Jara Lopez Ballonga

Freitag, 26. Juli 2013

UNTN

Alice im Untergrund


Sie steigen in die U-Bahn und bemerken, dass auffällig viele Menschen mit großen Kopfhörern in diesem Abteil sitzen. Doch diese Menschen scheinen auf dem ersten Blick seltsamerweise nichts miteinander zu tun zu haben. Sie nehmen also mit einem merkwürdigen Gefühl, dass es sich um keine gewöhnliche U-Bahn Fahrt handelt Platz und beobachten weiterhin Ihr Umfeld. Plötzlich stülpt sich der Mann neben Ihnen einen Gummihandschuh über die Hand und beginnt den Müll vom Boden der U-Bahn aufzusammeln. Ein weiterer läuft mit einem Fake Banjo durch das Abteil und singt Playback zu einem Song, den man nicht hören kann, während er auf den nicht vorhanden Saiten des Instruments zupft. Mittlerweile sind Sie nicht mehr die einzige Person, der in dieser U-Bahn etwas reichlich seltsam vorkommt. Aus unerfindlichen Gründen erheben sich alle Personen mit einem Kopfhörer gleichzeitig von ihren Sitzen, stehen eine Weile schweigsam und setzen sich wieder auf Ihre Plätze. Während der Herr, der zuvor den Müll aufgesammelt hatte, nun Wäsche auf einem Kleiderbügel an den Haltegriffen der U-Bahn aufhängt, hört man schon das erste verstörte Gelächter. Verwirrt müssen Sie hinnehmen, dass Sie nicht verstehen können, was hier gerade passiert.

„Was geht’n hier ab Oida?!“
„Wo ist die versteckte Kamera?“
Das und ähnliches bekam man am 16.07.2013 in der Münchner U-Bahnlinie U2 zu hören, wenn man ab 20:23 Uhr von der Haltestelle Messestadt Ost in Richtung Feldmoching unterwegs war. Das PATHOS Theater München lud zu der außergewöhnlichen Veranstaltung „UNTN“ ein, die eigentlich offiziell keine Veranstaltung war, weil hierfür die erforderliche Genehmigung der Münchner Verkehrsgesellschaft nicht vorlag. Also bewegte man sich, unter Einhaltung der Beförderungsvorschriften der MVG, als Fahrgast unter Fahrgästen im Untergrund.

In einer U-Bahn gelten Regeln. Abgesehen von den Vorschriften der Fahrgastbeförderung existieren nicht niedergeschriebene Gesetze – gesellschaftliche Regeln. Wer diese nicht beachtet, schießt sich schnell ins Aus. Man redet nicht lautstark in einer U-Bahn – nicht miteinander und schon gar nicht mit sich selbst. Schließlich sitzt man hier in einem engen Raum aufeinander und darf die anderen möglichst nicht belästigen oder in deren Privatsphäre eindringen. Man beobachtet die Menschen lieber durch die Spiegelung an der Fensterscheibe, um unauffällig einen Blick zu erhaschen, als direkt zu schauen und zu riskieren, dabei erwischt zu werden. Doch was passiert, wenn ein Fahrgast plötzlich aufsteht und anfängt die Scheiben der U-Bahn zu putzen? Was, wenn der Sitznachbar sich die Zähne putzt? Und was, wenn einem Fahrgast die bestellte Pizza in die U-Bahn geliefert wird und man auch noch freundlich ein Stück angeboten bekommt? Wenn all das passiert, haben wir das Gefühl, dass es sich hierbei um äußerst ungewöhnliche Dinge handelt. Unsere Gewohnheiten und Denkmuster werden durchbrochen. Unser Verständnis von sozialen Strukturen und Verhaltensweisen wird erschüttert. Aber was ist eigentlich normal und was anormal? Ist es nicht im gleichen Maße verrückt sich in der U-Bahn die Zähne zu putzen, wie lieber wegzuschauen, als hinzuschauen? Es ist wohl die Angst, dass etwas von jemandem gewollt wird, das die Fahrgäste einer U-Bahn veranlasst, sich am liebsten von allem abzuschotten. Was aber, wenn Dinge passieren, die so auffällig sind, dass man sich nicht mehr davon abschotten kann? Die Ungewissheit, wie man sich „richtig“ verhält, lässt viele eigenartig reagieren.

Ähnlich irritiert verhalten sich die „gewöhnlichen“ Fahrgäste der Münchner U-Bahnlinie U2, wenn sie beispielsweise beobachten, wie sich ein Mann im Käferkostüm und zwei weitere Männer gegenseitig überdimensional große Spielkarten herumreichen. Nur die Fahrgäste, die im Besitz eines Funkkopfhörers sind, welche zuvor an der Haltestelle Messestadt Ost ausgegeben wurden, verstehen durch das live übertragene Hörspiel, dessen Musik von Christoph Treußl und Text von Katrin Dollinger, Georg Reinhardt und Marcus Widmann stammen, die Zusammenhänge dieser seltsamen Geschehnisse. Interessant sind dabei auch die psychologischen Aspekte des Kollektivbewusstseins. Befinden sich die unbeteiligten Personen in der Minderheit, so ist zu beobachten, dass sich diese Menschen eher interessiert, amüsiert oder verdutzt verhalten und am liebsten zur Gruppe dazu gehören würden. Verändern sich die Verhältnisse so, dass die Unbeteiligten in der Überzahl sind, so wird die Gruppe als gesellschaftlich inakzeptabel empfunden und sogar verbal angegriffen.

Die Lieder und Texte, die von einem Laptop auf die Kopfhörer übertragen werden, haben stets einen engen Zusammenhang mit der Umgebung, die sich auf der Strecke befinden und sind hervorragend auf die Fahrt abgestimmt. Fährt die U-Bahn beispielsweise an der Haltestelle Messestadt West vorbei, so hört man, dass man gerade einen überirdisch gelegenen Friedhof passiert und wird für die dort ruhende Mutter gebeten zu einer Schweigeminute aufzustehen. Während der ganzen Fahrt vermischen sich illusionäre Konstruktionen mit der Realität, auf die man in der U-Bahn trifft. Die Grenzen zwischen Fiktion und Wahrheit verschwimmen so sehr, dass selbst die Teilnehmer oft nur noch schwer abschätzen können, wer eigentlich zu diesem performativen Schauspiel dazu gehört und wer ein gewöhnlicher Fahrgast ist. Wer ist Statist und wer real? Das alles wird exzellent mit der zeitgenössischen Architektur, der Stadtgeschichte und der heutigen Gesellschaft verbunden und reicht bis zu den Ansichten über die Demokratie eines alten griechischen Philosophen. Es gibt einen Denkanstoß über die eigene Lebensweise und öffnet die Tür zur Selbstreflektion. Muss man denn ein Leben lang ackern wie ein Wahnsinniger bis man selbst im Friedhof landet? Kann man nicht selber ein bisschen wie Alice im Wunderland sein und einen Schritt zurück machen, um einen anderen Weg zu gehen und eigene sowie gesellschaftlich vorgegebene Grenzen zu überschreiten, anstatt wie ein Hamster im Laufrad immer vorwärts zu laufen? Muss man immer nach oben streben? Sei es auf der Karriereleiter oder im privaten Bereich. Diese Frage muss jeder für sich selber beantworten. Vorerst wird man aber an den topologisch tiefgelegensten Punkt der Stadt herunter gezogen – nämlich der Endstation Feldmoching, welches auch die Eigenschaft besitzt, Stadt und Land miteinander zu vereinen. Vereint begeben sich auch alle Teilnehmer und Protagonisten tanzend aus dem Bahnhof nach oben, wo dieser einzigartig abwechslungsreiche und unterhaltsame Abend seinen Abschluss findet. Chapeau für diese ausgezeichnete Darbietung und die hervorragende organisatorische, technische und logistische Leistung, die sich dahinter verbirgt.

Hakan Karakaya
Foto: Matthias Kestel

Samstag, 6. Juli 2013

Schuld und Schein. Ein Geldstück

Der Bürger – Opfer der Steuern und Gebühren

Eine Zeitreise von der Vormodernen- zur Neukeynesianischen Geldtheorie oder kurzum: Vom  einfachen Goldstück zum Zertifikatindexoptionsfuturekontraktbundle. Wer noch nicht „Bankisch“ spricht, wird diese Sprache spätestens bei „Schuld und Schein. Ein Geldstück“ von Ulf Schmidt lernen, zu dessen Premiere das Münchner Metropol Theater am 04.07.2013 einlud.
Ein aus vielerlei Hinsicht völlig außergewöhnliches Theaterstück. „Drei… Zwei… Eins… Meins!“ hieß es am 22.12.2012 für das Metropoltheater, das als Meistbietender den Zuschlag für die Aufführungsrechte auf ebay erhielt. Mit sehr minimalistischen Mitteln gelingt es Jochen Schölch ein vermeintlich sehr trockenes und BWL-lastiges Thema zu einem didaktisch wertvoll gestalteten und amüsanten Sachtheater nebst Kabarett zu gestalten, bei dem nicht nur verdeutlicht wird, wie der Otto-Normal-Bürger von Bank und Staat ausgenommen wird, sondern wie sich gleichzeitig das wundersame Phänomen des Wirtschaftskreislaufs, inklusive der genialen menschlichen Erfindung der Inflation, entwickelt – und das alles im Stile der „Sendung mit der Maus“ inklusive einleitender Titelmelodie. Klingt komisch, ist aber so. Von Napoleon über Hitler bis zu Angela Merkel – wenn sich Anleger (A), Banker (B), Banker-Konkurrenz (B) und Anteilseigner (A), mit den jeweils auf deren T-Shirts aufgeklebten Buchstaben ganz zufällig zum Schriftzug A-B-B-A formieren, wird nicht nur zu ABBA’s „Money, Money, Money“ sondern auch zu „Ich wär‘ so gerne Millionär“ von den Prinzen oder Cro’s Hit „Einmal um die Welt“ getanzt, dessen wunderbare Choreographie und Gesang durch Philipp Moschitz angeleitet wurden. Das teuflische Bankenduo, gespielt von Paul Kaiser und Marc-Philipp Kochendörfer, verkörpert Ihre Rolle mit sichtlicher Freude, insbesondere dann, wenn es darum geht, neue verworrene Bankenverträge mit der obligatorischen Hypothek aufs Haus und der klitzekleinen Gebühr aufzusetzen, die der naive Sparer, gespielt von Butz Buse, blindlings unterschreibt und somit Haus und Hof riskiert. Denn Bankengeschäft ist Vertrauensgeschäft und von dessen Gewinnen will vor allem der smarte Anteilseigner, der von Philipp Moschitz dargestellt wird, einen satten Anteil haben. Und wenn den beiden Bankern die Ideen ausgehen, dann steht auch stets Herr Kaiser, gespielt von Hubert Schedlbauer mit Rat und Tat zur Seite, der eine Generalantwort auf jedes Problem im petto zu haben scheint – nämlich Steuererhöhung. Nicht nur durch die direkte Kommunikation mit dem Publikum fühlt man sich hier als Zuschauer gleich als ein Teil der Geschichte, sondern auch weil in diesem Stück, mit hohem Maß an schauspielerischer Leistung, ausschließlich mit dem Gesicht zum Publikum gespielt und gesprochen wird. Hervorragend umgesetzt ist der Effekt, wenn beispielsweise ein Säckchen Gold von A nach B den Besitzer wechselt und das von A ausgestreckte Gold plötzlich magisch aus dessen Hand verschwindet und im gleichen Augenblick weiter links in B’s Hand wieder auftaucht oder wenn ein Bechertelefon für den Wertpapierhandel und als Faxgerät dienlich ist. Die zahlreichen einfachen Requisiten versprechen immer wieder eine kreative und unterhaltsame Nutzung.  Die Entscheidung auf High-Tech Elemente zu verzichten wird es wohl gewesen sein, dass man im Gegensatz zur Textfassung vom Einsatz einer Leinwand abgesehen hat, auf der an einer bestimmten Stelle des Stücks Lösungsvorschläge zur Bewältigung der Finanzkrise live aus dem Publikum getwittert oder per sms versendet und projiziert werden können – Schade!
Und wer gegen Ende im Sumpf des undurchsichtigen Bankenkauderwelsch versunken ist, der wird auch prompt dazu aufgefordert, sich das eigens hierfür eingerichtete Forum auf www.schuldundschein.de zu Gemüte zu führen, in dem man sich gegenseitig die Funktionsweise von Transaktionsgeschäften erklären kann. Spätestens an dieser Stelle wird klar, dass Henry Ford Anfang des 20.Jahrhunderts absolut Recht hatte mit seiner Aussage: „Eigentlich ist es gut, dass die Menschen unser Banken- und Währungssystem nicht verstehen. Würden sie es nämlich, so hätten wir eine Revolution noch vor morgen früh“. Mit diesem und anderen eindrucksvollen Zitaten findet der Abend unter tosendem und langanhaltendem Applaus einen gelungenen Abschluss.

Hakan Karakaya
Foto: Hilda Lobinger

Samstag, 1. Juni 2013

DANN (1) Plattform für performative Zukunftsforschung

Deutschland mal anders
Wer wollte nicht schon einmal seine Zukunft erfahren? Wer von uns hat nicht schon sein Horoskop gelesen oder sich die Zukunft aus dem Kaffeesatz lesen lassen? Die Neugier, was mit uns in der Zukunft geschieht steckt, wohl in jedem – auch wenn man den Prophezeihungen meist keinen glauben schenkt. Ein kleiner Blick in die Kristallkugel hat am Abend des 31.05.2013 eine mögliche Zukunft Deutschlands verraten. Im Rahmen des Projekts „DANN (1) PLATTFORM FÜR PERFORMATIVE ZUKUNFTSFORSCHUNG“ wurde die zukünftige Gesellschaft Deutschlands im Münchner Pathos Transport Theater aus drei unterschiedlichen Perspektiven beleuchtet und das Zwischenergebnis der experimentellen Arbeitsschritte präsentiert. 

Den Auftakt des mehrteiligen Abends machten Tunay Önder und Emre Akal mit „Doyschland impossible“. In einem Raum mit Dämmerlicht sitzen zwei in Burka gehüllte Damen an einem Schreibtisch mit Laptops. Im Hintergrund läuft eine orientalische, poppige Musik und auf einer Leinwand präsentiert sich dem Zuschauer eine Gruppe von Burkaträgerinnen, die im Marilyn Monroe Style ihre nackten Beine zur Schau stellen. Der erste Gedanke des Durchschnittsbürgers wird wohl in diesem Augenblick schon gewesen sein: „Ähm… Moment mal. Da passt doch was irgendwie nicht zusammen?!“ Denn klischeegerecht  sitzen die züchtigen Damen eher zurückhaltend und schweigsam am Tisch. Über einen Laptop lässt eine der Damen ihren Gedanken freien Lauf und macht diese für den Zuschauer in einem Gedankenfenster live an der Wand mittels Beamer lesbar, während sich die andere Dame alltäglichen Beschäftigungen, wie etwa dem lackieren der Fingernägel oder dem telefonieren hingibt. Wer sich von der falschen Rechtschreibung der live getippten Gedanken blenden lässt und dem Glauben unterliegt, dass es sich bei Burkaträgerinnen eh um Analphabeten handeln muss, die sich in Deutschland nicht integrieren wollen und können, der wird sich gründlich täuschen. Wer die Gedanken dieser Damen liest, versteht – oder eben nicht, dass es sich um ganz gewöhnliche Geistesgüter handelt. Gedanken, die sich um Freiheit drehen; Gedanken, die feststellen, dass sie nicht weniger Rechte haben, nur eben andere und dass es auch unter einer Burka nicht schwer fällt, zu atmen.
Aber unter der Burka steckt viel mehr – und dazu bedarf es eines zweiten und tieferen Blickes. Denn als eine der Damen plötzlich zum Mikrofon greift und sich mit tiefer Stimme als Mann entlarvt wird klar, dass man sich von Äußerlichkeiten nicht täuschen lassen sollte. Passend zu den aktuellen Geschehnissen rund um das NSU Verfahren werden als Kontrast Texte vorgetragen, die Sarrazin selbst nicht besser hätte formulieren können. Unterbrochen wird das durch die Einspielung eines Videos, auf dem zu sehen ist, wie eine Gruppe von Burka tragenden Frauen zu orientalischer Musik wild in einem Raum tanzen und damit gegen diese rechtsextremen Gedanken ankämpfen. Menschliche Gefühlsausbrüche, die auch die Burka tragende Darstellerin nicht mehr auf dem Stuhl halten und höchst amüsant wild tanzen lässt.
„Doyschland impossible“ zeigt sich aber auch als eine sehr mutige Inszenierung, weil empfindliche Themen aufgezeigt und provokativ zur Sprache gebracht werden, als sie tot zu schweigen. Gerade zu Zeiten, in der die Münchner Bevölkerung über den Bau einer Moschee am Stachus debattieren, legen Tunay Önder und Emre Akal bewusst einen Finger in diese Wunde. Sie zeigen abschließend Aufnahmen von der Innenstadt Münchens mit dem Blick auf die Frauenkirche, das Wahrzeichen der Stadt, die durch die Klänge eines Muezzins, der über die Lautsprecher alle gläubigen Moslems zum Gebet aufruft, die Straßen beschallt. Ein Bild, das bald zur Realität werden könnte?
Und wer darauf gehofft hatte spätestens jetzt mit Terrorplänen, die geschmiedet werden, konfrontiert zu werden oder einen Selbstmordattentäter über die Bühne laufen zu sehen, wurde enttäuscht. Denn diese Inszenierung zeigt einen tiefen Blick unter die Burka ohne sie dabei auszuziehen. Es zeigt Frauen, die ebenso emanzipiert oder gar rebellisch sein können, wie westliche, „moderne“ Frauen. Auch eine Burka Trägerin ist ein Mensch wie du und ich, so die Message dieser ausgezeichneten Vorstellung.   

Nach einem Locationwechsel vom Atelier in das Hauptgebäude des Pathos Theaters konnte die zweite Vorstellung mit dem Titel „Mensch und Recht“ beginnen. Das Ensemble TRANS.net formiert sich im Raum. Eine sanfte Klaviermusik wird eingespielt und die fünf Darsteller bewegen Ihre Beine dazu im Takt. Sie tanzen auf der Stelle und bewegen sich zunehmend intensiver ohne sich vom Fleck zu rühren. Nach einigen Minuten schaltet sich der sechste im Bunde hinzu und spricht egozentrische Texte von einem Podium aus in ein Mikrofon. „Ich habe mich heute hier versammelt, weil ich über die Zukunft diskutieren möchte. Ich sage ich, weil ich mich nicht für dich interessiere.“ Das einzig Zeitgemäße am Menschenrecht sei, dass sie nur auf Papier existiere. Und somit wären wir auch beim Thema dieser Vorstellung angelangt, das man ohne diese Aussage und den Informationen aus der Broschüre an diesem Abend nicht verstanden hätte. Denn von nun an folgt leider ein von Atlantropa her bereits  bekannter, sinnloser und nerviger Aktionismus, den es in der nächsten knappen halben Stunde zu ertragen gilt.
1-2-3-4-2-3-4-5-6
1-2-3-4-5-6-7-8
Diese Zahlenfolge wird fast bis zum Schluss ununterbrochen und in Endlosschleife, im Chor und manchmal auch einzeln in den Raum geschrien, während man schon fast irritiert ist, welchem Schwachsinn, der sich gerade auf der Bühne abspielt, folgen soll. Denn überall passiert was – und das möglichst hecktisch und/oder auffällig. Während eine Schauspielerin mit einer Leiter an einer Säule hoch klettert, um sich oben niederzulassen, quasselt eine andere Details über Ihre Anatomie und körperliche Leiden in ein Mikrofon, das von der Decke herunter baumelt. Einer spielt Töne auf einem Klavier, während ein anderer auf der Stelle dribbelt und ein weiterer Steine im Raum verteilt. Ab und an ist auf einer Leinwand ein Video von einer futuristischen Zukunft zu sehen. Im Nachfolgenden wird, ähnlich wie bei einem pinkelnden Hund, Wasser an einer Säule herunter geplätschert, während ein daneben kniender Herr Steine auf den Boden fallen lässt.  Eine Schauspielerin läuft durch das Publikum und wedelt mit einem Taschentuch, das mit einem angenehmen Duftstoff versetzt ist – dies ist wohl der einzige wohlige Moment der Inszenierung, denn als einer der Schauspieler seine Jacke anzieht und den Raum für kurze Zeit verlässt, möchte man am liebsten mitgehen. Nachdem man neben diversen anderen Unsinnigkeiten auch das wilde Rennen von rechts nach links und von links nach rechts einer Schauspielerin, ähnlich eines Staffellaufs, über sich ergehen lässt, sehnt man sich schon nach dem Ende dieses Debakels. Aber so einfach wird es dem mittlerweile unruhig gewordenen Zuschauer nicht gemacht. Eine Darstellerin steuert einzelne im Publikum an und fragt: „Welche Hoffnung habt ihr schon aufgegeben?“ Da möchte man am liebsten Antworten „Dass ihr endlich damit aufhört.“ Aber nachdem man sich auch Anekdoten und Vorschriften aus der DDR angehört hat und sich auch angesehen hat, wie mit Kreide auf dem Boden gemalt wird, kehrt auf der Bühne wieder etwas Ruhe ein. Der Zahlenrhythmus, der sich schon längst in die Köpfe eingebrannt hat, verstummt und die Klänge von Oasis Wonderwall versprechen ein Ende, bis auch der mit einem lauten Knall kommt.

Nachdem man diesen absoluten Tiefpunkt des Abends überwunden hatte, kam die 20-minütige Pause wie gerufen, um sich für das nächste und letzte Stück zu sammeln, welches wieder im Atelier stattfand. Für die Videovorstellung von Hunger & Seide mit dem Titel „I want you back!“ wurden die Zuschauer von einem abgedunkelten Raum in Empfang genommen. Rechts außen auf der Bühne eine Hängematte, auf das ein schwaches Licht gerichtet ist, in der es sich Judith Al Bakri und Barbara Balsei gemütlich machen. Das Video beginnt und man sieht morgendliche Frühstückszubereitungen. Eier werden in einer Pfanne gebraten, Kaffee wird gekocht, Brot wird geschnitten und die Haare werden nach dem Duschen geföhnt. Allerdings wird das alles rückwärts abgespielt, so dass man beispielsweise zusehen kann, wie sich das bereits in der Pfanne fertig gebratene Ei immer mehr zum rohen Ei entwickelt, bis es sich wieder in einer zugeschlagenen Schale im ganzen Ei befindet. Schnell wird dem Zuschauer die Besonderheit dieser Inszenierung klar. Hier spielt sich alles rückwärts ab. I want you back – und damit ist wohl die Zeit gemeint. Eine Zukunftsperspektive, die alles Geschehene wieder ungeschehen macht, damit man sich eine neue Zukunft basteln kann. Diese Art der Vorstellung sorgt immer wieder für viel Erheiterung im Zuschauerraum, denn plötzlich sieht man ungewohnte Bilder, wie zum Beispiel einen Staubsauger, der den Raum verschmutzt, statt den Dreck wegzusaugen oder Nudeln, die praktisch ausgewürgt werden bis der Teller wieder voll ist. Jedoch ist der Effekt des amüsanten „wir lassen die Zeit rückwärts laufen und machen alles ungeschehen“ nach einigen Minuten abgenutzt und berechenbar. Nachdem man ausgewürgte Bananen, ein Schnittlauchbrot oder Tomaten gesehen hat, fragt man sich, wie viel von der Nahrungsmittelpalette wohl auf diese Weise noch abgeklappert wurden und wie viel die Schauspielerinnen wohl während der Dreharbeiten zu diesem Video vor lauter essen an Gewicht zugenommen haben müssen. Aber es wird schließlich nicht nur rückwärts gegessen. Auch zerrissenes Papier wird wieder ganz gemacht und bereits pürierte Erdbeeren in ihren Ausgangszustand versetzt. Nach dem Ende des Videos überraschen die Schauspielerinnen mit einem live rückwärts gesprochenen Dialog, bis sie auch rückwärts aus der Hängematte herauskriechen und einen gedeckten Tisch in den Raum hinein tragen, an dem sie Platz nehmen und wieder das ganze Essen in sich hinein stopfen – diesmal aber vorwärts und begleitet durch Charpentier’s Te Deum. Ob diese Fressorgie eine neue aber doch wieder unveränderte Zukunft ist und uns damit gezeigt werden soll, wie lernresistent die Gesellschaft aus Fehlern der Vergangenheit ist? Diese Frage muss wohl jeder für sich selbst beantworten. Genauso die leider akustisch unverständliche Bedeutung des abschließenden Textes, welches vom Band kam und rückwärts gesprochen aufgenommen und ebenfalls wieder rückwärts wiedergegeben wurde. Dennoch ein interessanter und unterhaltungsvoller Abschluss dieses Abends, der mit seiner Einfachheit und den kreativen Gedankengängen Appetit auf ein Hauptstück im Rahmen einer Fortsetzung des Projekts macht.
Hakan Karakaya
Foto: Hakan Karakaya

Mittwoch, 17. April 2013

Die Geschichte vom 12.12.12

Die Geschichte vom 12.12.12

Ein historischer Tag, den es so nie mehr wieder geben wird. Die Welt steht Kopf. Die Server von Facebook rauchen. Ab heute wird Fußball mit 12 Mann gespielt. Die Zwölf ist eine erhabene Zahl, weil sowohl 6, die Anzahl der Teiler, als auch 28, die Summe ihrer Teiler, vollkommene Zahlen sind - und streben wir nicht alle nach Erhabenheit und Vollkommenheit? Die abendländische Musik, deren 12.Teil einer Oktave, der Halbton des kleinsten verwendeten Intervalls darstellt, beschallt heute unsere Ohren und bestimmt die europäische klassische Musik, die aus 12 Tönen und somit aus 12 Dur- und Molltonarten besteht. Der 12-Finger-Darm zelebriert heute seinen ganz besonderen Stellenwert in unserem Körper. Und auch Jesus feiert heute noch einmal mit seinen 12 Jüngern das letzte Abendmahl bei Simit und Çay. Eins gefolgt von zwei - und das drei Mal. 12 - Ist 12 eine migrantische Zahl? Hieß es vielleicht nicht früher mal zwülf? Hat sich vielleicht das "ü" in zwülf nicht mit der Zeit zu einem "ö" gekrümmt - also zu einem deutschen zwölf integriert? Denn im Althochdeutschen hieß es mal "zwelif" mit der Bedeutung „zwei bleibt übrig“, also „zwei über zehn“. Waren das die zwei Ausländer - pardon, die zwei Bürger mit Migrationshintergrund, die verzweifelt Anschluss an der zehn gesucht haben und es nur schaffen konnten indem Sie sich verbogen? Ja - Fußball macht mit 12 Spielern keinen Sinn. Dazu müsste man sich selbst und die Denkweisen verändern. Das tun wir lieber mal nicht. Genauso wenig, wie es Sinn macht eine Zahl 13 zu feiern. Die ist schließlich böse und einen 13.13.13 wird es ja auch nicht geben.

Hakan Karakaya

Onkel Wanja

Langeweile – Wo Zeit und Raum zur lähmenden Lethargie werden



„Nichts hat sich geändert, alles bleibt beim Alten.“ – das triste Landleben und die sinnlosigkeit eines unerfüllten Daseins zeichnet Anton Tschechow in seinem Stück „Onkel Wanja“, welches am 04.04.2013 zur Premiere in den Münchner Kammerspielen aufgeführt wurde. Dass diese Vorstellung stattfinden konnte ist dem Intendant Johan Simons zu verdanken, der nach einer grippalen Erkrankung der Regisseurin Karin Henkel kurzfristig einsprang und ihre begonnene Arbeit vollendete. Eine ineinander greifende Zusammenarbeit, die sich sehr positiv aufs Gesamtergebnis niederschlägt.
„Why did you get up this morning?“. Diese und ähnliche Fragen, die fortwährend als Laufschrift eingeblendet werden,  kann man nur schwer beantworten, wenn man in den Mikrokosmos des Onkel Wanja blickt. Professor Serebrjakow lässt seine Nichte Sonja und ihren Onkel Wanja auf seinem Landgut arbeiten, während er ein schickes Stadtleben mit seiner zweiten Frau, der jungen und hübschen Jelena führt. Jahrelang schuften Sonja und Wanja, um dem Professor den erwitschafteten Ertrag zu schicken, der sich damit sein teures Leben finanziert. Alles ändert sich als der zwischenzeitlich pensionierte Serebrjakow mit seiner Frau wieder aufs Land zieht und allen klar wird, dass er nichts mehr als ein blutsaugender, schwätzender, alter Blender und Hypochonder ist.  Damit beraubt er alle, die an ihn geglaubt und ihn verehrt haben, ihrer Zeit und Mühe der Vergangenheit. Im Laufe der Stücks stellen alle Beteiligten ihre Handlungen ein. Eine resignierte und betäubende Starre bricht aus. Jede Form von Lebensfreude schwindet und ein tristes Landleben holt die Protagonisten ein. Eine Langeweile, die es bis zum Tode auszusitzen oder im Alkohol zu ertränken gilt. In ein Loch der Trostlosigkeit gefallen, leben und lieben sie alle aneinander vorbei. Wanja ist unglücklich in Jelena, der zweiten Frau des Professors verliebt. Jelena spielt mit dem ständig betrunkenen und ungepfelgten Arzt und Naturschützer Astrow, der wiederum die Liebe des Mauerblümchens Sonja nicht bemerkt, während Wanjas Mutter noch immer den zittrigen Professor verehrt. Das letzte Quäntchen an menschlicher Emotion kocht in Wanja hoch, als der Professor ankündigt, das Landgut verkaufen zu wollen. Gepackt von der Wut versucht er Serebrjakow zu erschießen aber wie auch alles andere in seinem Leben misslingt ihm dieser Mordversuch.
Muriel Gerstner quetscht die Schauspieler in einen klaustrophobisch kleinen, schwarzen Schaukasten, der sie zur Bewegungslosigkeit zwingt. Unterstützt wird das durch das überflüssige Dasein der Großmutter Marija Wassiljewna Wojnitzkaja (Hans Kremer) und dem verarmten Gutsbeitzer Telegin (Stefan Merki), die wohl nur als Raumfüller in das Stück integriert wurden. Dieser knappe Raum spiegelt auch die vermeindliche Auswegslosogkeit der Situation der Figuren wider – eingeengt in einer öden Welt, in der es nichts Lebenswertes mehr gibt.  Ein Leben, in der sich das einzige Glück darin spiegelt, sich dort kratzen zu können, wo es juckt.
Henkel und Simons reduzieren die Inszenierung auf das absolut Wesentliche und verleihen den Figuren eine sprachliche Monotonie, welches die surreale Tristesse des Stücks unterstreicht. Die Schauspieler werden ähnlich wie in einem Marionettentheater eingesetzt und tänzeln bewusst unbeholfen in ihrem Schaukasten.  Nur Onkel Wanja, gespielt von Benny Claessens, sitzt phlegmatisch und eher wortkarg am Bühnenrand. Anna Drexler verkörpert die schüchterne und in einem Kartoffelsack ähnlichen Kostüm gekleidete Brillenschlange Sonja überwältigend und mit gekonnter, punktgenauer Komik, wodurch sie das Publikum oft zum Lachen bringt. Aber auch der an Parkinson leidende Professor, der von Stephan Bissmeier sehr authentisch gespielt wird, trägt zur Unterhaltung der Zuschauer bei, wenn er in seinem grauen Anzug gebrächlich und fast stotternd über die Bühne trippelt. Ähnlich erbärmlich wirkt der Landarzt, hervorragend verkörpert durch Maximilian Simonischek, der wie ein obdachloser Säufer ständig über die Bühne torkelt und dabei schon längst aufgehört hat zu leben. Wie aus einer anderen Welt strahlt hingegen Wiebke Puls, wenn sie sich in ihrem pinken Abendkleid wie ein Messer ihren Weg über die Bühne schneidet und sich in eine fremde Gesellschaft begibt, über deren Unglück sie nur verächtlich lachen kann.
Tschechow deutet damit auf ein Phänomen, das sich auch in einer dekadenten Gesellschaft von heute wiederfinden lässt. Auf ein Problem einer wohlhabenden Gesellschaft, die seine Möglichkeiten nicht zu nutzen weiß und somit immer mehr in ein Loch aus Frust und Langeweile fällt.
Insgesamt kann man aber sagen, dass man aufgrund des Schicksals der Protagonisten doch lieber mehr Mitgefühl verspürt hätte, als so viel zu lachen. Das ist wohl auch eines der Kritikpunkte an diesem Abend, der durch den Gesang melancholischer, russischer Lieder von Polina Lapkovskaja begleitet wurde.
Mit tosendem Applaus und einer Standing Ovation zeigt das Publikum allen Beteiligten gegenüber seine Anerkennung. Noch nie war Langeweile so Unterhaltsam!

Hakan Karakaya

Foto: Julian Röder

Stiller Lärm

Stiller Lärm


H:  Offff... ich hab aus Langeweile viel zu viel gefressen.
      Ich baue mir grad ein Haus aus Waffeln.
      Und dann lass ich es einkrachen.
      Und dann bau ich einen Turm aus Waffeln.
      Und dann lass ich es einkrachen
      Und dann bau ich mir eine Pyramide aus Waffeln.
      Und dann lass ich es einkrachen.
      Und dann bau ich mir Probleme aus Waffeln
      Und dann lass ich es einkrachen.
      Schön....
      Sehr schön....
      Mein Leben ist so wunderbar.
      Tick Tack Tick Tack.
      Es ist Zeit zum essen.
      Ich muss meine Waffeln einkrachen lassen und sie dann essen.
      Ja... eine gute Idee!
      Das werde ich tun!
      Werde ich das?
      Draußen ist es so trist.
      Alles grau in grau.
      Die wunderbarsten Nuancen des graus.
      Ich bau mir einen Müllhaufen aus Waffeln.
      Und dann lass ich es einkrachen.
Z:   Hör doch auf!
      Mach was anständiges!
      Was isst du?
      Nur Waffeln?
H:  Waffeln!
      Essen, schlafen, sitzen.
      Essen, schlafen, sitzen.
      Und manchmal auch liegen.
      Das Leben ist wunderbar!
Z:   Deine Gehirnzellen ziehen sich zurück!
H:  Nicht doch...
      Ich bau mir ein Haus.
      Ja, das mache ich!
      Ein Haus aus Waffeln
Z:   Ooooooooffffffffff…
H:  Und dann feiere ich in diesem Haus und lasse es einkrachen.
      Grau…wunderbares grau!
      Alle Nuancen dieses wunderbaren graus durchströmen meinen Körper.
      Stille…
      Es ist so still, dass meine Gedanken schon zu laut sind.
      Am besten baue ich mir ein Haus.
      Ein Haus aus Waffeln – und lasse es einkrachen.
      Dann ist es nicht mehr so still.
      Dieses Grau – ein himmlisches grau!
      Im wahrsten Sinne des Wortes.
Z:   Bist du krank?
H:  Ich sollte mehr essen
      Das ist die Lösung!
      Wer isst, hat was zu tun.
Z:   Du hast sowieso so krass abgenommen.
      Magersüchtiger!
H: Magersüchtig... ein interessantes Wort!
      Mager... süchtig…
      Die sucht nach magerem Fleisch.
      Medium rare.
      Gebraten kann man sich damit sicher ein Haus bauen.
      Am besten esse ich ne Waffel.
      Dieses grau.... es blendet mich!
      Oh neiiiiiiiin.... es ist schon wieder April. Bald ist der Winter wieder da!
      Und wenn sich das grau ändert?
      Was wenn es nicht mehr ist?
      Ich liebe mein Leben!
Z:   Ich glaub du liebst nur dich und Waffeln!
H: Ich bau mir jetzt ein Haus.
      Ein Haus aus Waffeln.
      Und dann lass ich es einkrachen.
      Sei still!
      Meine Gedanken…
      Meine Gedanken sind so laut
      Ich bekomme Kopfschmerzen!
Z:   Offf… das tut echt weh!
H: Gute Besserung!
Hakan Karakaya

Wieso?


Wieso?

Es ist dunkel. Das Tageslicht bekomm ich nur durch die klitzekleinen Spalten zu sehen, die an ein Fenster erinnern. Frische Luft hab ich so gesehen noch nie geschnuppert. Was ist das eigentlich – das Ding, das sie Frischluft nennen? Hier hängt der Duft des Todes in der Luft, vermischt mit unserem eigenen Kot. Ja, ich bin zwar eingesperrt, aber ich bin nicht alleine. Es heißt, wir waren mal frei – so erzählt man es hier. Ich weiß nicht so recht, ob ich das glauben kann. Ich kann´s mir einfach nicht vorstellen. Wie das wohl ist frei zu sein? Ich bin hier im meiner Zelle geboren. Ich kenne nichts anderes als dieses Gefängnis. Aber warum bin ich eingesperrt? Was hab ich verbrochen? Ich habe doch niemandem etwas getan! Freiheit… seltsames Wort. Man sagt, früher konnten wir uns frei bewegen, essen wenn wir Hunger hatten und frische Luft atmen. Ich halte das für ein Gerücht! Meine Freiheit beschränkt sich auf ca. 2-3m². Eigentlich kann ich mich kaum bewegen aber das Gesetz sagt, dass ich ausreichend Platz habe. Mehr steht mir nicht zu und damit muss ich leben.

Tagsüber höre ich Schreie. Schreie von den Verurteilten. Sie werden abgeholt, um getötet zu werden. Nein, ihnen wird nicht einfach der Kopf abgeschlagen. Sie werden in Gruppen in die Todeskammer gestoßen. Dort wird ihnen eine Pistole mit Betäubungsmittel an den Kopf gehalten aber das wirkt nie. Sie  werden an den Beinen Kopfüber aufgehängt, während sie noch verstört zappeln und schreien – ich kann sie gut hören. Es ist der bittere Schrei des Überlebenswillens aber sie haben keine Chance. Sie werden halb erschlagen während sie herunterbaumeln. Die Bäuche werden ihnen aufgeschlitzt bis sie verbluten und die anderen müssen dabei zusehen bis sie selber an der Reihe sind.

Neulich war mal einer von uns krank. Da mussten wir alle Medikamente nehmen, damit wir nicht angesteckt werden. Uns wurde in die Pampe, die sie uns als Fraß vorsetzen, Antibiotika gesteckt, damit wir nicht auch krank werden. Dabei merken die gar nicht, dass das uns nur noch mehr krank macht und schädlich ist. Ich musste dieses Zeug essen, obwohl ich eigentlich gar nicht wollte. Dieser Matsch schmeckt sowieso nicht gut – soll’s ja auch nicht. Es ist einfach nur günstig und soll uns stopfen.

Nachts höre ich viele schreien und weinen. Manche von ihnen haben Schmerzen, andere wissen genau, was uns allen hier noch blüht. Jedes Mal wenn einer von denen im weißen Kittel herein kommt, zucken wir zusammen. Manchmal schauen sie nur aber manchmal werden wir auch in der Nacht weggebracht. Geschlafen hab ich schon lange nicht mehr. Ich muss mir immer die gleiche Frage stellen. Wieso machen die das mit uns? Warum ist die Welt so grausam? Ich hatte keine Antwort, bis eines Tages ein Neuer zu uns kam. Er schien schon viel erlebt zu haben. Er berichtete mir von der Freiheit, die wir nur als Mythos kannten. Er sagte, dass er mal so gelebt hat, wie wir es nur aus Erzählungen her kennen. Bis auch er eines Tages eingesperrt und zu uns gebracht wurde. Ich wollte Ihm so viele Fragen stellen. Alles kochte in mir hoch aber dann wurde ich von hinten gepackt und aus meiner Zelle gezogen. Ich schrie noch meine letzte Frage „Wieso?“. Er blickte zu mir und sagte „Geld mein Lieber! – Das ist alles nur des Geldes wegen.“

Dann wurde auch ich, wie die übrigen Rinder, ins Schlachthaus geführt.


Hakan Karakaya